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„Wir können viel aus der Vergangenheit lernen“

Junior-Bildungsreferetin Kristina Becker aus Arfeld erinnert sich an Gedenkveranstaltungen in Auschwitz und Berlin – und blickt auf Alten-Synagogen-Plan in Bad Laasphe

Blickt die aus Arfeld stammende Kristina Becker auf den Christlich-Jüdischen Freundeskreis Bad Laasphe und die Alte Synagoge dort, sagt sie: „Zivilgesellschaftliche Initiativen wie diese sind essenziell, um auch in ländlichen Regionen an die Opfer des Holocaust zu erinnern.“ Foto: privat

Auschwitz/Berlin/Arfeld. Die Befreiung der im Konzentrationslager Auschwitz gefangenen Menschen jährte sich vor wenigen Wochen am 27. Januar zum 80. Mal. Als deshalb zunächst im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, dann auch im Deutschen Bundestag in Berlin Erinnerungs-Veranstaltungen zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust stattfanden, war auch eine Wittgensteinerin dabei. Die 25-jährige Kristina Becker stammt ursprünglich aus Arfeld. Nach ihrem Abitur am Berleburger Johannes-Althusius-Gymnasium hat sie zunächst an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, dann an der Erfurter Universität Literaturwissenschaft studiert und das gerade mit ihrer Master-Arbeit abgeschlossen. Seit April 2025 ist sie nun als Junior-Bildungsreferentin bei den Arolsen Archives tätig. Sie findet die Frage, welche die Rolle die Literatur in der Gedenkarbeit, in der historisch-politischen Bildungsarbeit spielen kann, besonders spannend. Wie könnten etwa Jugendbücher pädagogisch eingesetzt werden, um jungen Menschen einen Zugang zu Geschichte und Erinnerungskultur zu ermöglichen? Für den Christlich-Jüdischen Freundeskreis Bad Laasphe der Anlass, Kristina Becker Fragen zu stellen: zum einen zu den beiden Gedenkveranstaltungen, zum anderen zu den Plänen, aus der Alten Synagoge an der Laaspher Mauerstraße einen Erinnerungs-, Begegenungs- und Lernort zu machen.

„Ein Haus, um zu leben, ein Ort, um zu lernen“ so versteht sich die Internationale Jugendbegegnungsstätte in der polnischen Stadt Oświęcim, deren deutscher Name „Auschwitz“ lautete. (Foto: DBT /Stella von Saldern)

Jens Gesper: Du warst am Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust bei der Gedenkstunde in Auschwitz, wie kam es dazu?

Kristina Becker: Ich arbeite seit zwei Jahren als Werkstudentin bei den Arolsen Archives, dem größten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus weltweit. Im Rahmen meiner Arbeit dort habe ich an der Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages teilgenommen, die in diesem Jahr unter dem Thema „80 Jahre Befreiung von Auschwitz“ stand. Gemeinsam mit fast 80 Jugendlichen habe ich eine Woche in Berlin und Oświęcim verbracht, wir haben uns die Gedenkstätte Auschwitz angeschaut, mit Überlebenden gesprochen, Ansätze in der deutschen Erinnerungskultur diskutiert und immer wieder gefragt, „Was können wir tun, damit das nicht wieder passiert?“
Besondere Momente waren die Teilnahme an der offiziellen Gedenkveranstaltung in der Gedenkstätte Auschwitz, an der viele Überlebende und Staatsoberhäupter teilgenommen haben. Außerdem durften wir am 29. Januar an der Gedenkstunde im Bundestag teilnehmen, wo Roman Schwarzmann, ein ukrainischer Holocaust-Überlebender die Gedenkrede hielt und später noch ein Gespräch mit ihm führen. Das Gespräch kann hier angeschaut werden. An diesem Tag im Bundestag zu sein war auch so kurz vor der Bundestagswahl sehr spannend.

Neben den Orten der Massenvernichtung und dort, wo die Asche der Ermordeten aufbewahrt wird, finden sich in der Gedenkstätte Auschwitz solche Steine. Die Inschrift bedeutet auf Deutsch: „Zum Gedenken an die Männer, Frauen und Kinder, die dem nationalsozialistischen Völkermord zum Opfer fielen. Hier liegt ihre Asche. Möge ihre Seelen in Frieden ruhen.“ (Foto: DBT /Stella von Saldern)

JG: Was hat Dich in dem ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager am meisten bewegt?

KB: Ich fand den Besuch besonders interessant, weil er mir aufgezeigt hat, welche unterschiedlichen Ansätze zu Ausstellungspraktiken und Gedenkstättenarbeit es gibt. Die Ausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz ist sehr alt und bedient sich vieler Ansätze, die Pädagog*innen in Deutschland mittlerweile kritisch betrachten. Zum Beispiel werden Fotos von nackten Menschen in der Ausstellung als „Schock-Faktor“ verwendet. Die unterschiedlichen Opfergruppen werden nicht oder kaum thematisiert, die Opfer bleiben oft eine abstrakte, anonyme Zahl. Es wird kaum mit Biografien gearbeitet.
Abgesehen davon wurde mir die Dimension dieses Ortes erst ein bisschen bewusster, als ich wirklich dort war. Als wir durch das ehemalige Lager Auschwitz-Birkenau geführt wurden, war teilweise in alle Richtung nur Lagergelände zu sehen. Das macht das Ausmaß der Verbrechen an diesem Ort natürlich immer noch nicht greifbar, aber zeigt die enorme Dimension auf.
Diese Reise geprägt hat vor allem aber der Austausch mit jungen Menschen. Wir waren gemeinsam mit Sinti*zze und Rom*nja, Juden und Jüdinnen, jungen Erwachsenen aus der Ukraine, Polen, Tschechien, Ungarn, dort. Es gab unterschiedliche Bezüge zu dem Ort, Täter und Opfer in den Familiengeschichten. Es war sehr bewegend zu sehen, wie junge Menschen aus ganz unterschiedlichen Kontexten zusammenkommen, um das, was uns heute bewegt, und die ganz individuellen Gründe für die Teilnahme an diesem Programm gemeinsam zu besprechen.
Die Gedenkveranstaltung war außerdem etwas Besonderes, was ich so wahrscheinlich nie wieder erleben werde. Viele Auschwitz-Überlebende waren dort und standen ganz im Fokus der Veranstaltung, einige von ihnen hielten bewegende Reden und fanden mahnende Worte für alle Anwesenden, so zum Beispiel die Überlebenden Marian Turski und Leon Weintraub. Staatsoberhäupter und Repräsentant*innen vieler Länder waren anwesend und haben Kerzen niedergelegt. Die Gedenkveranstaltung kann hier auf Englisch angeschaut werden.

JG: Du warst zwei Tage später auch bei der Gedenkstunde im Bundestag dabei. Wie haben sich die beiden Veranstaltungen unterschieden und was hat Dich in Berlin am stärksten beeindruckt?

KB: Das waren an sich schon zwei sehr unterschiedliche Veranstaltungen. In Auschwitz war es sehr international, ein Fokus lag auf den Überlebenden. Berlin war anders, wir durften unten im Plenarsaal mit dem voll besetzten Bundestag sitzen, und das ist schon besonders weil das abgesehen von den Abgeordneten sonst niemand darf. Der Gedenkredner Roman Schwarzmann hat über seine Lebensgeschichte, sein Überleben und die vielen Menschen, die nicht überlebt haben, und seine Aufarbeitungs- und Gedenkarbeit in der Ukraine gesprochen. In Bezug auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat er an die Anwesenden appelliert, die Ukraine weiter zu unterstützen. Die Gedenkstunde kann hier angeschaut werden.
Aber gleichzeitig wussten wir alle, als wir dort saßen, dass in wenigen Stunden über den CDU-Antrag zur Verschärfung des Asylrechts abgestimmt werden würde und voraussichtlich erstmals mit den Stimmen der AfD ein Antrag durch den Bundestag gehen würde.
Wir haben in dieser Woche viel über Performanz und Inszenierung von Erinnerung, Gedenken und Versöhnung nachgedacht, und die Gedenkveranstaltung im Bundestag war der Höhepunkt dessen. Der Pianist Igor Levit fasste den 29. Januar 2025 so zusammen: „Der Tag beginnt im Bundestag damit, dass man der Shoa gedenkt und endet damit, dass Nazis jubeln.“ (Levit, Bluesky 29.01.2025)
Während es natürlich ein großes Privileg war, an diesen Veranstaltungen teilnehmen zu können, mit Politiker*innen über Erinnerungskultur und Bildungsarbeit sprechen zu dürfen, bleibt für mich trotzdem danach immer wieder die Frage, wie viel Ambivalenz ich aushalten kann. Eine rein performative Erinnerungskultur, wenn im nächsten Atemzug Rechtsextremen nicht nur eine Bühne gegeben wird, sondern auch ihre Agenda normalisiert wird, verhöhnt die Opfer des Nationalsozialismus.

Gedenkredner Roman Schwarzmann sprach im Deutschen Bundestag über seine Lebensgeschichte, sein Überleben, seine Aufarbeitungs- und Gedenkarbeit in der Ukraine . In Bezug auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine appellierte er an die Anwesenden, die Ukraine weiter zu unterstützen. (Foto: DBT /Stella von Saldern)

JG: Woher kommt Dein Interesse an diesen Geschehnissen, die mittlerweile viele Jahrzehnte zurückliegen?

KB: Erinnerungskultur ist ein Thema, mit dem ich mich schon seit Beginn meines Studiums viel beschäftigt habe. Ich habe einen kulturwissenschaftlichen Bachelor gemacht und mich mit Themen wie der Aufarbeitung kolonialer Verbrechen, Praktiken von Gedenken und Erinnerung, Ausstellungs- und Museumsgestaltung beschäftigt. Besonders durch meinen Nebenjob kam dann das Interesse an der deutschen Erinnerungskultur an den Holocaust und die Verknüpfung zur Gegenwart. Der Ansatz unserer Bildungsarbeit mit Jugendlichen ist ihre Lebensrealität selbst. Dort setzen wir an und stellen Bezüge zur Geschichte her. Dass Aufarbeitung nie vorbei sein kann und Deutsche Erinnerungskultur viel inszeniert aber wenig tatsächlich tut, zeigt, dass wir uns weiter mit dem historischen Verbrechen der Shoah auseinandersetzen müssen und besser darin werden müssen, Kontinuitäten von Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung zu vermitteln. Besser darin werden müssen, unsere Demokratie und unsere Werte zu schützen. Wir dürfen nie aufhören, alles dafür zu tun, dass wir den Opfern gerecht werden.

JG: Wieso ist das historische Erinnern wichtig?

KB: Wir können viel aus der Vergangenheit lernen, und müssen das auch, der Kampf gegen den Faschismus geht immer weiter. Und natürlich um der Opfer willen. Es geht nicht um Wiedergutmachung, sondern um historische Verantwortung. Rechte Gewalt gibt es in Deutschland auch seit 1945. Der NSU, die rechtsterroristischen Anschläge von Hanau und Halle, und viele weitere Beispiele zeigen das. Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung waren nie weg, sondern immer in unserer Gesellschaft präsent.
Darüber aufzuklären ist wichtig, um dekonstruieren und entgegensteuern zu können. In meiner Arbeit habe ich mich viel damit auseinandergesetzt, welche Narrative sich in den verschiedenen Jahrzehnten in der BRD bzw. der DDR manifestiert haben und warum.
Das bedeutete, sich Literatur und Filme, Musik und Kunst über die Shoa anzuschauen und zu analysieren. Heute werden demokratiefeindliche Kräfte immer populärer während demokratische Parteien immer weiter nach rechts rücken. Bei unserer Führung im Bundestag sagte der Mitarbeiter „Nicht alle, die demokratisch gewählt sind, sind im Sinne der Demokratie unterwegs“. Der Autor Max Czollek fordert in seinem Buch Versöhnungstheater (2023) „Eine Erinnerungskultur, die nicht nur danach fragt was war, sondern auch danach, was heute ist“ (Czollek 2023, 109).

JG: Was hältst Du von den Planungen des Bad Laaspher Freundeskreises für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, aus der ehemaligen Synagoge in der Lahnstadt ein Haus der Begegnung, der Erinnerung und des Lernens für Wittgenstein und das hessische Hinterland zu machen?

KB: Ich bin sehr gespannt darauf und freue mich, dass ein solcher Ort für Gedenken, Austausch und Lernen in Wittgenstein geschaffen wird. Soweit ich weiß, gibt es in Wittgenstein bisher keinen vergleichbaren Ort, der Gedenken und Bildung so verzahnt.
In einer Zeit, in der immer weniger Überlebende von den Verbrechen berichten können, ist es umso wichtiger ein Netzwerk aus lokalen Strukturen aufzubauen, die sich für Gedenken und Aufklärung über die NS-Verbrehen einsetzen und die Prozesse aufarbeiten, die dazu geführt haben. Zivilgesellschaftliche Initiativen wie diese sind essenziell, um auch in ländlichen Regionen an die Opfer des Holocaust zu erinnern und gleichzeitig gegenwartsbezogen über Diskriminierung, Antisemitismus und Rassismus aufzuklären, sowie interreligiöse Dialoge zu ermöglichen. Ich halte dieses Projekt für den Raum Wittgenstein für eine gute Möglichkeit, für Schüler*innen und Erwachsene einen Ort zu schaffen, der lokales Engagement hervorbringt und unterstützt und so unterstreicht, dass die NS-Verbrechen nicht nur in den Städten, nicht nur in Osteuropa sichtbar waren, sondern auch bei uns in Wittgenstein. Der Holocaust war ein gesamtgesellschaftliches Verbrechen und ist nicht hinter verschlossenen Türen und ohne Kenntnisse der deutschen Bevölkerung passiert, sondern auch in Wittgenstein wurden Menschen zwangsdeportiert und ermordet, Synagogen zerstört, Zwangsarbeiter zu körperlicher Schwerstarbeit gezwungen.
Wegen meines Hintergrunds in der Bildungsarbeit freue ich mich auch besonders über die Räumlichkeiten, die explizit für pädagogische Angebote genutzt werden sollen. Ich hoffe, dieses Projekt ist der Beginn von viel Austausch, diversen Bildungsprojekten und zivilgesellschaftlichen Initiativen.

Neben Kristina Becker aus Arfeld gehörten fast 80 junge Leute zu der internationalen Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages unter dem Überschrift „80 Jahre Befreiung von Auschwitz“ und hinter dem Hashtag #WirErinnernUns. (Foto: DBT /Stella von Saldern)

Spendenkonten

Da der Verein die alte Synagoge in der Mauerstraße 44 renovieren will, benötigt er finanzielle Unterstützung (Spendenquittungen werden erstellt).

DE42 4605 3480 0000 2002 87
Sparkasse Wittgenstein

DE16 5139 0000 0050 2129 04
Volksbanken Mittelhessen

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