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Sich mit dem Nazi-System arrangiert

Jürgen Seul las in Bad Berleburg aus seiner Biographie von Erich Kästner, Erich Knauf und Erich Ohser

Bad Berleburg. Will man sich im Internet über Erich informieren, findet man bei einem engagierten Statistiker die Aussage, dass „Erich“ von 2010 bis 2024 in ganz Deutschland ungefähr 500-mal als erster Vorname vergeben wurde. Das bescherte ihm auf der Vornamensliste in diesem Zeitraum 2010 seine niedrigste Platzierung auf Rang 3793, in 2018 die höchste mit Platz 1286. Es muss aber mal andere Zeiten in Deutschland gegeben haben. Bei einer Lesung im Dritten Ort, der Berleburger Bücherei der Zukunft, ging es jetzt nämlich gleich um drei Männer des Namens: um den Schriftsteller Erich Kästner, Jahrgang 1899, den Journalisten Erich Knauf, Jahrgang 1895, und den Karikaturisten Erich Ohser, Jahrgang 1903, bekannt unter seinem Künstlernamen e. o. plauen. Jürgen Seul las in Bad Berleburg aus seinem Buch „Gratwanderungen“, das im vergangenen Herbst erschien, und stellte diese außergewöhnliche Männerfreundschaft in deren gemeinsamer Biographie vor.

Rikarde Riedesel moderierte die Lesung von Jürgen Seul in der Berleburger Stadtbücherei, anschließend waren auch die übrigen Besucherinnen und Besucher eingeladen, dem Autor Fragen zu stellen.

Sieben Jahre habe er an dem Buch gearbeitet, offenbarte Jürgen Seul jetzt Rikarde Riedesel, die die Lesung moderierte, und knapp 20 Zuhörenden – Alter: 17 bis 90 – in der Stadtbücherei. Zunächst hätte es nur um Erich Kästner gehen sollen, doch dann sei er auf die zwei Anderen gestoßen. Allein die Recherche sei zeitaufwändig gewesen, auch weil er in Bezug auf die Nachlässe verschiedene Erfahrungen gesammelt habe, so der Mann aus Ahrweiler: Der ostdeutsche Schriftsteller Wolfgang Eckert verfügte über den Nachlass von Erich Knauf und habe ihm den kollegial zur Verfügung gestellt; die Plauener Galerie e.o.plauen sei in Bezug auf Erich Ohser eine große Hilfe gewesen; die Zusammenarbeit mit dem Nachlass-Verwalter von Erich Kästner habe sich indes schwierig gestaltet.

Knapp 20 Zuhörerinnen und Zuhörer von 17 bis 90 Jahren besuchten jetzt die Lesung von Jürgen Seul im Dritten Ort, der Berleburger Bücherei der Zukunft.

Auch wenn das Hauptaugenmerk des Buchs auf der deutschen Nationalsozialisten-Herrschafts-Zeit liegt, so zeichnet Jürgen Seul doch die davor liegenden Lebensläufe des Trios – inklusive des Ersten Weltkriegs – nach. Obwohl sie politisch links stehen und eindeutig gegen Nazis sind, bleiben sie auch nach Hitlers Machtübernahme im Reich und arrangieren sich hier auf unterschiedliche Arten mit dem System. Zunächst ohne aufzufallen. Rikarde Riedesels Nachfrage, wie das möglich war, beantwortete der Autor damit, dass die Drei wohlmöglich gut vernetzt waren, dass sie vielleicht Glück gehabt hatten, dass die Nazis organisatorisch in vielen Bereichen generell eher schlecht aufgestellt waren.        

Gern signierte Jürgen Seul nach der Lesung in der Berleburger Stadtbücherei seine Biographie „Gratwanderungen“ von Erich Kästner, Erich Knauf und Erich Ohser.

Zwei der drei Erichs überleben die Nazis jedoch nicht. Auch diese Geschichte über eine Denunziation und deren Folgen erzählt das Buch detailreich, mit zahllosen Zitaten aus Protokollen der Geheimen Staatspolizei. Sogar Fotos der Gestapo-Verhörbeamten von Erich Knauf und Erich Ohser zeigt das Buch, genau wie die Kostenaufstellung der Rechnung, die Erna Knauf nach der Hinrichtung ihres Ehemanns erhält. Das macht die Akribie deutlich, mit der Jürgen Seul gearbeitet hat. Man merkt dem Buch als Gesamtkunstwerk an, dass es von einem Autor stammt, der sowohl Jura als auch Geschichte und Literatur studiert hat. Am Ende macht sich der Schriftsteller Gedanken über den Nachkriegs-Entschuldigungs-Ansatz einer „Inneren Emigration“. Dort findet sich seine Antwort auf Rikarde Riedesels Frage nach der Wichtigkeit des Buchs für die Gegenwart. Jürgen Seul schreibt: „Stets muss man sich vergegenwärtigen, dass niemand in einer Gesellschaft auf Dauer existieren kann, ohne sich auf sie in irgendeiner Art und Weise einzulassen. Das gilt für die Andersdenkenden im Dritten Reich, wie auch jene in der DDR oder solche im heutigen Putin-Russland.“ Also korrumpiert jede Diktatur die gesamte Bevölkerung. Umso wichtiger ist es, für Demokratie zu kämpfen, um sie zu bewahren.

Monika Schröder von der Berleburger Buchhandlung hatte das örtliche Rathaus auf Jürgen Seuls Buch „Gratwanderungen“ hingewiesen, ruckzuck war eine Lesung für den Dritten Ort, die Berleburger Bücherei der Zukunft, organisiert.

Text und Fotos: Jens Gesper

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